Narzisstische Eltern und Dynamiken in der Familie – Wenn Liebe zur Bühne wird
- Theresa Reichmann
- 13. Okt.
- 4 Min. Lesezeit

Es gibt Familien, in denen Nähe nicht Sicherheit bedeutet, sondern Verwirrung. In denen ein Kind nie ganz weiß, ob es heute geliebt oder kritisiert wird – ob es genug ist oder wieder etwas „falsch“ gemacht hat. Wer in einem solchen Klima aufwächst, lebt in ständiger innerer Anspannung: auf der Suche nach Bestätigung, vorsichtig darauf bedacht, niemanden zu verärgern.
Diese Dynamik ist typisch für Familien, in denen ein Elternteil narzisstische Züge oder sogar eine narzisstische Persönlichkeitsstörung zeigt.
Der folgende Beitrag beruht auf dem Fachartikel von Nina JF Gauss (Österreichische Zeitschrift für Säuglings-, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie, 2022) und beleuchtet, wie sich narzisstische Muster in Familien zeigen – und was sie mit Kindern machen.
Was narzisstische Eltern so verletzend macht
Narzisstische Menschen sind nach außen oft charmant, kompetent, bewundert. Doch hinter der Fassade liegt eine tiefe innere Leere. Wie Gauss beschreibt, wurde ihr Selbst in der frühen Kindheit schwer verletzt – sie mussten ein „artifizielles Selbst“ erschaffen, ein künstliches Ich, das Stabilität vortäuscht.
Um diese Fassade aufrechtzuerhalten, brauchen sie Kontrolle, Bewunderung und Bestätigung. Empathie fällt ihnen schwer. Kritik erleben sie als Angriff. Und wer ihnen zu nahekommt, wird Teil eines subtilen Machtspiels, in dem Nähe und Zuwendung an Bedingungen geknüpft sind.
Unterschiedliche Gesichter des Narzissmus
Nicht alle Narzisst:innen sind laut, selbstverliebt und dominierend. Es gibt zwei Hauptformen, die sich auch in Familien sehr unterschiedlich zeigen können:
Der grandiose Narzissmus Diese Form ist leichter zu erkennen. Menschen mit dieser Ausprägung suchen Bewunderung, Macht und Kontrolle. Sie wirken oft selbstsicher, ehrgeizig und glänzen nach außen – doch innerlich sind sie von Angst vor Bedeutungslosigkeit getrieben. In der Familie zeigen sie sich oft überkritisch, herabsetzend oder kontrollierend.
Der verdeckte oder vulnerable Narzissmus Diese Form wirkt leiser. Betroffene erscheinen hilfsbereit, aufopfernd, „immer für alle da“. Doch ihre Hilfe ist nicht frei – sie brauchen die Dankbarkeit und das Gefühl, gebraucht zu werden. Ihre Verletzlichkeit äußert sich in passiv-aggressiven Mustern, subtiler Schuldzuweisung oder dem unausgesprochenen Vorwurf: „Ich mache alles für euch – und niemand sieht mich.“
Beide Formen können sich auch in ein und derselben Person abwechseln. Mal übergroß und kontrollierend, mal zerbrechlich und beleidigt – das Umfeld muss sich ständig anpassen. Kinder lernen früh, die Stimmung der Eltern zu „lesen“, um sicher zu bleiben.
Wenn Familie zur Bühne wird
In narzisstischen Familiensystemen dreht sich alles um den narzisstischen Elternteil – seine Stimmung, seine Anerkennung, seine Kränkungen. Versuche, eigene Bedürfnisse zu äußern, werden oft abgewertet („Jetzt übertreib nicht“, „Das bildest du dir ein“).Das Kind lernt früh: Ich bin nur dann sicher, wenn ich funktioniere.
Um die Kontrolle zu behalten, spalten narzisstische Eltern häufig. Sie stellen Geschwister oder andere Bezugspersonen gegeneinander, erzählen unterschiedliche Geschichten – und schaffen so Misstrauen statt Verbindung. Die Familie wird zu einem System aus Rollen und Loyalitäten, in dem niemand mehr weiß, was wahr ist.
Die Rollen der Kinder
Nina Gauss beschreibt drei typische Positionen, die Kinder in solchen Familien einnehmen können:
Das „Goldene Kind“: Entspricht den Erwartungen, glänzt, macht „alles richtig“. Doch Liebe ist hier an Leistung gebunden. Das Kind lebt mit der Angst, vom Podest zu fallen, sobald es nicht mehr perfekt ist.
Der oder die „Sündenbock:in“:Auf diese Person wird alles projiziert, was die Familie nicht sehen will: Wut, Scham, Versagen. Sie wird entwertet, kritisiert, oft lächerlich gemacht – und wächst mit dem Gefühl auf, grundsätzlich falsch zu sein.
Der oder die „Wahrheitssprecher:in“:Erkennt das kranke System, benennt es, zieht sich irgendwann zurück. Nach außen wirkt diese Person stark, innerlich bleibt oft Einsamkeit und tiefe Erschöpfung.
Diese Rollen sind austauschbar: Wenn das „Goldene Kind“ versagt, kann es plötzlich zum „Sündenbock“ werden – und umgekehrt. Liebe bleibt unberechenbar.
Die Folgen für Kinder
Kinder, die in solchen Strukturen aufwachsen, entwickeln häufig ein chronisches Gefühl der Unsicherheit. Sie stellen ihre Wahrnehmung infrage („War es wirklich so schlimm?“), übernehmen Verantwortung für die Emotionen anderer und verlieren den Zugang zu ihren eigenen Grenzen.
Langfristig kann das zu Angstzuständen, Depressionen, psychosomatischen Beschwerden oder Beziehungsproblemen führen. Viele entwickeln ein starkes Helfer:innen-Syndrom: Sie versuchen auch im Erwachsenenalter, andere glücklich zu machen – in der Hoffnung, endlich jene Anerkennung zu bekommen, die ihnen als Kind verwehrt blieb.
Warum Verständnis keine Entschuldigung ist
Narzisstische Eltern waren oft selbst verletzte Kinder. Ihre Überforderung mit Empathie ist Folge früher seelischer Wunden – doch das entschuldigt ihr Verhalten nicht. Ein Kind ist niemals verantwortlich für die emotionale Stabilität der Eltern.
Wie Gauss betont, ist es entscheidend, dass Betroffene lernen, die Dynamik zu erkennen. Denn nur wer versteht, was passiert, kann beginnen, sich daraus zu lösen.
Heilung beginnt mit Klarheit
Der Weg aus dieser Prägung ist kein schneller. Er führt über Erkenntnis, über Trauer – und über die Erlaubnis, sich abzugrenzen. Viele erleben eine Phase tiefer Trauer über das, was nie war: die Kindheit, die sie verdient hätten. Doch in dieser Trauer liegt auch der Beginn der Freiheit.
In einer sicheren therapeutischen Beziehung kann Schritt für Schritt das eigene Selbst wieder spürbar werden: Ein Ort, an dem das Kind von damals endlich sagen darf:
„Ich war nie falsch – ich war einfach nur Kind.“
Wenn Sie sich in diesen Zeilen wiederfinden
Wenn Sie merken, dass diese Beschreibungen etwas in Ihnen berühren oder Erinnerungen wecken:Sie sind nicht allein – und Sie sind nicht „zu empfindlich“.Viele Menschen tragen die Spuren narzisstischer Familiendynamiken in sich, ohne sie je benennen zu können.
Eine Psychotherapie kann dabei helfen, die eigene Geschichte neu zu verstehen, Grenzen zu stärken und innere Sicherheit aufzubauen. Heilung bedeutet nicht, die Vergangenheit ungeschehen zu machen – sondern sich selbst wiederzufinden, jenseits der alten Rollen.
(Basierend auf: Nina JF Gauss (2022). „Hilfe, ich muss hier raus!“ Narzisstische Persönlichkeitsstörung im Familiensystem und dessen Auswirkung auf die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen. Österreichische Zeitschrift für Säuglings-, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie, 20. Jg.)


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